Stadt und Land — Siedlung und Kommune

aus Handbuch der deutschen Reformbewegungen isbn 3-87294-787-7 // http://www.societyofcontrol.com


Siedlungs- und Landkommunebewegung

Anne Feuchter-Schawelka

 

Das Bestreben, zurück zur Scholle zu ziehen mit dem Ziel, autark, selbstbestimmt und unentfremdet leben zu können, setzt Wahlmöglichkeiten voraus, die sich nach 1848 politisch und wirtschaftlich nur langsam anbahnten. Erst durch Aufhebung des Schollenzwangs durch das preußische Reformwerk war die entscheidende Voraussetzung gegeben dafür, daß die Siedlungs- und Kommuneidee in Deutschland um sich greifen konnten. Das Wissen um die agrarische Verbesserung des Bodens, die Gewöhnung an die Mobilität, das Wachsen von Großstädten ließen gleichzeitig Kreise Gleichgesinnter entstehen. Es bedarf also eines kurzen Blicks auf die offizielle Politik, um auch die ideellen lebensreformerischen Modelle von Siedlung und Kommune zu verstehen, zumal, wie Krabbe 1974 feststellt, es häufig eine Unmöglichkeit bedeutet, personell und programmatisch eine Trennungslinie zwischen beiden ziehen zu wollen. 1]

 

Vor 1848 war das Siedeln gleichbedeutend mit Binnenkolonisierung d. h. Landzugewinn mittels Urbarmachung von unfruchtbarem, unbewirtschaftetem Boden unter merkantiler Verwaltung, z. T. unter Lockerung von Toleranzgrenzen (Friedrich II. ). Die Siedlungsgesetzgebung Preußens begann 1850 mit dem Gesetz zur Erleichterung der Ablösung durch Rentengutsverfahren. Doch erst 1859 wurde dem Bauernlegen, d. h. der Einziehung von Bauernland durch die Gutsherren, Einhalt geboten; die Landflucht hielt jedoch an. 1886 wurde die gesetzliche Grundlage für die Siedlungsarbeit einer sogenannten Ansiedlungskommission in den Provinzen Posen und Westpreußen geschaffen, die Liegenschaften (= Rittergüter) ankaufen und in Siedlerstellen umlegen konnte. 1914 zählte man 29.052 Ansiedlerstellen mit 174.000 Köpfen; darunter aber nur 7.089 Landarbeitersiedlungsstellen.

Parallel zu den Veränderungen in der entstehenden Industriegesellschaft entwickelte sich gleichzeitig ein bürgerlicher Siedlergeist als Reaktion auf die städtebauliche Entwicklung, der um die Jahrhundertwende in Wohnsiedlungen und Stadtrandsiedlungen erste Ansätze zeigte. Die Entflechtung der Großstädte wurde angegangen, Schrebergärten wurden angelegt, Gartenstädte geplant und gebaut. Bis Kriegsbeginn war ein umfangreicher staatlicher Verwaltungsapparat aufgebaut: Siedlerberatungsstellen, Rentenbanken, Genossenschaftseinrichtungen u. ä. mit ihren Publikationen wie z.B. das Archiv für innere Kolonisation (ab 1908). Schon zu Kriegsbeginn machte man sich verstärkt Gedanken, wie die Kriegsheimkehrer untergebracht werden sollten, und plante die Ansiedlung von Kriegsinvaliden, Kriegerheimstätten, Friedensstädte sowie die innere Kolonisation auf breiter Grundlage. Nach dem Kriege schritt man dann mittels Gesetzgebung zur Tat: Anfang 1919 wurde die Reichssiedlungsverordnung erlassen, die im August in ein Reichssiedlungsgesetz einging. Unbe-wirtschaftetes Moor- und Ödland konnte, notfalls auf dem Enteignungswege, zur Bewirtschaftung freigegeben werden. Von 1919 bis 1928 sind auf diese Weise auf 16.172 ha Moor- und Ödland 1.761 Neusiedlerstellen gegründet worden.2] Zur beschleunigten Wiederansiedlung der aus Polen vertriebenen deutschstämmigen Ansiedler trat zudem 1923 das Flüchtlingssiedlungsgesetz in Kraft. Ca. 2.500 Flüchtlinge konnten in Brandenburg, Pommern und Schlesien auf neue Siedlungsstellen vermittelt werden. Die Siedlungsfrage als Mittel zur Entspannung der Wohnungsnot der Großstädte aus politischer und wirtschaftlicher Sicht war zwar bereits nach 1918 andiskutiert worden, führte aber erst nach der Depression zu politischen Maßnahmen. So blieb die Bilanz der staatlichen Siedlungspolitik mit ihrem enormen Verwaltungsapparat zur Siedler- Wirtschaftsberatung und Ansiedlerfürsorge ernüchternd: Nur 26.343 Neusiedlerstellen konnten zwischen 1919 und 1928 geschaffen werden, davon 21.602 allein in Preußen. In Anliegersiedlungen wurden auf 137. 148 ha Fläche 130.193 Stellen begründet. Erwerbsgärtnersiedlungen entstanden koloniemäßig nur im Anschluß an schon vorhandene stadtnahe ältere Anbaugebiete. Vom gesamten Landlieferungssoll von 1.413.706 ha wurden aber nur 25, 3% erfüllt. 1931 sollte ein Bündel von drei neuen Gesetzen für das folgende Jahrzehnt den Weg für 100.000 neue lebensfähige und krisenfeste Siedlerstellen ebnen. Über den dringenden Handlungsbedarf klärt eine Siedlungsbroschüre des Preussischen Ministeriums für Landwirtschaft, Domänen und Forsten aus dem Jahre 1931 auf. In ihr wird die Rechnung aufgestellt, daß die Armut und Depression im wesentlichen durch die unselige Politik des Freiherrn vom Stein und die Durchsetzung der Interessen der Großgrundbesitzer verursacht worden seien. Gerade die verarmte Schicht der ländlichen Arbeiter, die dann in Amerika zum Kulturdünger geworden sei, habe den unsäglichen Ausgang des Krieges bestimmt! Nun ist man zusätzlich noch besorgt über den Geburtenrückgang, der volksvernichtend zu werden droht. 3]

Planmäßige Agrarwirtschaft von Staats wegen erschien daher unerläßlich. Doch Reichskanzler Brüning warf man Siedlungsbolschewismus vor; sein Kabinett wurde im Mai 1932 gestürzt. Der zeitgenössische Kommentator Küppers plädierte im Sommer 1932 im Hinblick auf die politischen Querelen für eine sachliche Auseinandersetzung: Die Siedlung sei im

 
Rahmen einer klarliegenden allgemeinen Wirtschaftspolitik auf lange Sicht zum Leitgedanken der Nation zu machen, wie Stalin den Fünfjahrplan zum Leitgedanken des russischen, Mussolini seine Getreideschlachten zum Leitgedanken des italienischen Volkes machten. Darum ist die ideelle Fundierung so wichtig: Siedlung muß in der Linie bester deutscher kultureller Tradition liegen. 4]

Aufgabe der Siedlung sei, die innerwirtschaftlichen Strukturveränderungen, zu welchen die weltwirtschaftlichen Energieverlagerungen zwingen in die Wege zu leiten; aber nicht nur eine Verbäuerlichung solle angestrebt werden, sondern ein neues Menschentum, ein Stadt und Land gleichermaßen umschließendes Menschentum. 5]

1933 war dann mit der Gleichschaltung dieses Ziel in erreichbare Nähe gerückt. Die Siedler der staatlich geförderten Einrichtungen verloren jedoch nach der nationalsozialistischen Machtübernahme sehr schnell ihre Autarkie. Der ideologisch politische Tenor um die Siedlung blieb auch nach dem Dritten Reich virulent: Am 25. September 1945 wird gemeldet, daß in der russischen Zone im Bezirk Glogau Boden verteilt wurde: Um einen hundertjährigen Wunsch der landwirtschaftlichen Arbeiter, der Kleingrundbesitzer und der besitzlosen Bauern zu erfüllen, hieß es, habe die Verwaltung der Provinz Brandenburg am 6. September 1945 eine Verordnung über die Bodenreform erlassen, die die Grundlage eines neuen Demokratischen Deutschland bildet… . 6] Auch in der Westzone mußten Neue Siedlungen quasi aus dem Boden – in überamerikanischem Tempo -gestampft werden, um die Flüchtlingsströme aufnehmen zu können.

Die neue staatsunabhängige bürgerliche Siedlungsidee in Deutschland entwickelte sich zuerst in den Köpfen einzelner Staatstheoretiker und Nationalökonomen, die darin die Möglichkeit sahen, massenwirksam auf die Arbeiterschaft und deren Vereinswesen einwirken zu können. Siedeln bedeutete hier nicht nur – wie Hans Heinrich Ziegenhagen 1792 in seiner Verhältnislehre gefordert hatte – die totale Zersiedelung des Landes zum Nutzen eines harmonischen Lebens in Licht, Luft und Sonne, sondern sozialen Neubeginn. Schon 1845 sah Friedrich Engels (1820-1895) die kommunistische Siedlung durch-Gütergemeinschaft als erprobt an und auf diese Weise den Weg zur sozialistischen Gesellschaft geebnet. Beweis dafür waren in seinen Augen die religiösen Kommunegemeinden in Amerika und England, in denen Kommunismus, das soziale Leben und Wirken in Gemeinschaft der Güter mit bestem Erfolg verwirklicht seien; Engels stellte diese Kommunen in seiner Beschreibung der in neuerer Zeit entstandenen und noch bestehenden kommunistischen Ansiedlungen ausführlich vor. Dabei erwähnt er zehn Shaker-Gemeinden, die Gründungen der aus Württemberg stammenden [[Rappists]] Rappiten mit New Harmony und Economy und die Gemeinde Zoar (württembergische Separatisten unter Führung von Pfarrer Bäumler), die 1819 zur Gütergemeinschaft übergegangen war u. a. m. Zwar war ihm der religiöse Tenor suspekt, aber er sah in diesen kommunistischen Ansiedlungen doch eine große Ausstrahlungskraft auf Teile der amerikanischen Bevölkerung und hoffte, auch in Deutschland durch ihr Vorbild einen sozialen Neubeginn einleiten zu können, wie er schon in seinem Aufsatz: Rascher Fortschritt des Kommunismus in Deutschland betont hatte. Auch von christlicher Seite propagierte man, wie es im Titel einer Schrift Victor Aime Hubers (1800-1869) aus dem Jahre 1848 heißt: Die Selbsthülfe der arbeitenden Klassen durch Wirtschaftsvereine und innere Ansiedlung. Nationalökonomische Ideen und Theorien zur Bodenreform wurden also schon früh entworfen, fanden jedoch schließlich keine Handlungsträger; an einen entsprechenden Umbau der Gesellschaft im wachsenden Industriestaat war nicht zu denken. Zur Jahrhundertwende mehrten sich zwar kritische Stimmen aus der organisierten Arbeiterschaft, doch selbst Peter Kropotkins (1842-1921) Ruf: Zurück aufs Land zum harmonischen Zusammenwirken von Landwirtschaft, Industrie und Handwerk, den er 1892 in seiner Schrift Eroberung des Brotes anstimmte, fand kaum Gehör. Ähnliche Ideen konnte man aus England von William Morris (1834-1896) übernehmen, dessen 1890 erstmals veröffentlichter utopischer Roman http://www.societyofcontrol.com\library\htm_pdf\morris_newsfromnowhere_e.htm/ News from Nowhere bereits ab 1892 abschnittsweise in der sozialdemokratischen Zeitung Neue Zeit von Karl Kautsky veröffentlicht wurde. Morris‘ Utopie der kommunistischen Gesellschaft und Kultur basierte auf dem Boden des Goldenen Handwerks und forderte eine Rückkehr zum ruralen Tauschprinzip! Aus Rußland ertönte zudem Leo Tolstois (1828-1910) Ruf nach dem einfachen Leben und der moralischen Selbstvervollkommnung, wobei er einzelne Siedlungen pries, die seit den 1880er Jahren in Rußland erprobt wurden. All diese Ideen kulminierten schließlich in Gustav Landauers (1870-1919) 1909 propagiertem Sozialistischen Bund und den von ihm publizierten Siedlungsideen, die dann die Nachkriegsgeneration der Freideutschen aufgriff.

Die Betrachtung von Siedlung und Kommune läßt sich unter der Überschrift Leben und Arbeit – Wirtschaften und Wohnen fassen, da es galt, existenzielle, genossenschaftliche und ideelle Werte zu verbinden. In den Notzeiten des 19. und 20. Jahrhunderts waren die Menschen schlicht gezwungen, sich zusammen zu tun, um besser überleben und dabei noch freundschaftliche Beziehungen aufrecht erhalten zu können. Man erprobte soziale Utopien, warf sein Weniges zusammen, arbeitete hart und orientierte sich am Genossenschaftsgeist, dem z. T. eine Art religiösen Sendungsbewußtseins anhaftete. Wir berufen uns hierbei auf die Gemeinschaftssiedlung, die Küppers neben der Unterteilung in Einzelsiedlung, Gruppensiedlung und Genossenschaftssiedlung folgendermaßen klassifiziert hat: Die Verbindung der Siedler zueinander erstreckt sich über rein rechtliche Abmachungen hinaus bis ins Persönliche. Äußerstes Extrem der Gemeinschaftssiedlung ist die Sozialsiedlung, die Kommune: Besitz- und Arbeitsgemeinschaft; deren Gegenstück ist das Extrem der Individualsiedlung: die Robinsonade. 7] Dabei lassen sich nach Krabbe vier Grundmotive identifizieren, die die Siedlungs- und Kommunebewegung auszeichneten:

 
  1. Ablehnung des herrschenden sozio-ökonomischen Systems, insbesondere des Privateigentums an Grund und Boden, und des kapitalistischen Profitstrebens, dem man eine mehr oder minder durchgeführte Gütergemeinschaft entgegensetzte.
     
  2. Streben nach einem utopischen Zustand der Natürlichkeit, Wahrhaftigkeit und Echtheit, der – als Antizipation im kleinen Kreis – der Gesellschaft als ein revolutionierendes Anschauungsmodell dienen sollte.
     
  3. Begründung von Lebensgemeinschaften, d. h.: Das Ziel der Siedlungen lag in erster Linie in der Gemeinschaft selbst, sie waren also Selbstzweck.
     
  4. Vor allem das Streben nach einem naturverbundenen Leben, Flucht aus der Großstadtzivilisation und der Gemeinschaftsfredheit. 8]

Die Wurzeln dieser Motivkette können hier nicht weiter erörtert werden, sollen aber schlagwortartig doch erwähnt sein: Sie entstammten

 
  • im Hinblick auf die Erfahrung der Entfremdung, wie sie die Romantik erstmals thematisiert hatte, der Verklärung der mittelalterlichen Bauhütte, der Künstlerkolonien und literarischen Zirkeln;
     
  • im Hinblick auf die Landschaft und das Landleben dem Stimmungslyrismus im Landschaftsbild: Giovanni Segantini (1858-1899) und Fidus/Hugo Höppener (1868-1948) wurden dadurch geradezu zu Bild-Propagandisten;
     
  • im Hinblick auf die Vegetarierbewegung der gemeinsamen Suche nach der Gesundung und Reinhaltung des Körpers;
     
  • im Hinblick auf die Erziehungsbewegung dem Gedankengut der Aufklärung, nahmen dann aber mit Turnvater Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852) und der Turnerbewegung schnell nationalistischen Charakter an.

Zusammengefaßt lauteten also die Ziele: Bodenreform, Ernährungsreform, Arbeitsgemeinschaft, Genossenschaftlichkeit, Freundschaftsmodell, Selbstlosigkeit, Vorbildlichkeit, Körperkultur = Selbstreform, Erziehungsreform, Sendungsbewußtsein usw. Diese Zielsetzungen entwickelten sich jedoch in vielerlei unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen und Ausformungen innerhalb der Siedlungs- und Kommunegemeinschaften, die meist von einem charismatischen Führer ausgingen, der deren Zielsetzung bestimmte und dieser seinen Stempel aufzudrücken vermochte. So hebt sich z. B. der christlich-religiöse vom völkisch-religiösen Typ ab, der Naturphilosoph vom Sozialreformer und Anarchisten.

Schon im 16. Jahrhundert sammelten sich einzelne religiös motivierte Volks- und Gesinnnungsgruppen, die gemeinsam in Kommunen autonom zusammenlebten und zusammen arbeiteten. Erwähnt sei die älteste Gründung dieser Art, die 1526 in Mähren gebildete Gemeinde der Hutterischen Brüder – verfolgten Christen, die an der Erwachsenentaufe festhielten und deren Nachfahren sich nach langer Odyssee erst 1878 in Nordamerika niederließen und noch heute autonom in ihren Bruderhöfen als Produktions- und Konsum-Kooperative leben. Sie bewegten nicht nur Friedrich Engels, sondern waren Modell für die religiösen Sozialisten nach dem Ersten Weltkrieg, deren Initiator der evangelische Theologe Eberhard Arnold (1883-1935) war. Seine Bruderhof-Idee, veröffentlicht im Neuwerk mit dem Aufruf zur Urge-meinde in Pazifismus und Gewaltlosigkeit zu leben, wurde angenommen. Gründungen wie der Bruderhof Sannerz (1919-1926) mit Fortsetzung im Rhön-Bruderhof (1927-1937), der Habertshof (1920-1934) sowie die Quäker-Siedlung Neu-Sonnenfeld (1923-1945) gehen auf ihn zurück oder waren stark von ihm beeinflußt.

Die völkische Ausrichtung einer ganzen Anzahl von Siedlungsgründern hatte ihren Ursprung in der germanischen Glaubenserneuerung der Jahrhundertwende um Paul de Lagarde, Artur Bonus, Heinrich Lootzky u. a. Angeregt durch Silvio Gesells? (1862-1930) Ideen von Freiland und Freigeld? wollten sie nahe an der Scholle sogenannte Rassepflegestätten aufbauen, in denen weit ab von der verseuchten Großstadt deutsche Art gedeihen sollte. Allerdings verstanden die Initiatoren es sehr gut, sich der staatlichen Stellen für die Binnenkolonisation zu bedienen. So strebte Willibald Hentschel (1858-1947) Ziele wie Rassenhygiene und Polygamie schon vor 1914 in der rassischen Zuchtkolonie Mitgard an.

 

Die Freilandsiedlung Donnershag bei Sontra wurde von Ernst Hunkel und seiner Frau Margart mit dem Ziel gegründet, die Wiedergeburt deutscher Art an Leib und Seele aus germanischem Gottesborne9] zu erschaffen. Sein Deutschordensland wurde von Eden aus mitgesteuert. 1919 schritt man zur Landnahme, erwarb mit Hilfe des Staates ein Grundstück und gründete eine Genossenschaft, die in ihrer Hochblüte 350 Mitglieder umfaßte. Neben der Betätigung in Landwirtschaft, Obstanbau und Kinderpflege wurde vor allem publiziert und propagiert, was allerdings zu Differenzen und 1924 zur Auflösung der Genossenschaft führte.

Aus dem Geist des Wandervogelführers, dem Greifenbund und der Fichte-Gesellschaft predigte Adalbert Luntowski (1883-1934) schon vor 1914 die germanische Moderne und warb für die Geburt des deutschen Menschen, die dann wohl auch zu seiner Namensumwandlung in Reinwald führte. Aus der 1915 gegründeten Deutschen Siedlungsgemeinschaft schuf er 1919 als Ordensgründer und -hüter die vegetarische Siedlungsgemeinschaft Haus Asel am Edersee und wachte über die Einhaltung einer strengen Hausordnung. Ihr Ich hatten die ledigen Gesellen und Gesellinnen des Ordens zugunsten der edlen Tätigkeit sterben zu lassen. Mit Tritt ein in den Kampf (Neujahrsrede 1924) wurde ein Zusammenhalt propagiert, der dann bald auch in Parteireden der NSDAP sichtbar wurde. Reinwald schrieb 1926 über Haus Asel eine romanhafte Erzählung mit dem Titel Peter von Horn. Ausgangspunkt der Hellauf-Siedlung Vogelhof bei Hayingen war ein nebulöser Pietismus, durchzogen von östlichen Lehren, verquickt mit germanischem Erweckungsglauben und dem Wunsch nach einem gesunden Leben. Mehrere Initiatoren, namentlich Friedrich Scholl, Karl Solleder sowie kriegsversehrte Wandervögel fanden sich zur Schaffung einer arisch-christlichen Lebensgemeinschaft zusammen und gründeten 1920 Siedlung Hellauf G.m.b.H. . Im Gegensatz zu Asel wurde das Ich betont – auch zur Förderung der Enthaltsamkeit. Man siedelte der Gemeinschaft wegen, baute 1924 die Schwestersiedlung Schurrenhof bei Rechberg und arbeitete effektiv in Landwirtschaft, Gärtnerei und Landerziehungsheim. Dieses Heim hielt die Siedlung auch noch nach der Reprivatisierung 1936 bis heute am Leben.

 

Die Artamanen riefen ab 1923 als Hüter der Scholle, Kämpfer für Ehre, Art, Acker und Lebensraum10] zur Landarbeit im reichsnahen Ostgebiet auf. Willibald Henschel, der Begründer des Mitgard-Bundes, erstellte ein Völkisches Erneuerungs-Programm und siedelte selbst im Hadelner Moor. Auch Bruno Tanzmann (1878-1939) aus der Bauernhochschulbewegung und die Verfechter der freiwilligen Arbeitsdienstpflicht Wilhelm Kotzde (1878-1948), Georg Obendorfer sowie Fritz Hugo Hoffmann griffen die Binnenkolonisationsthese auf und wollten verödete Rittergüter besiedeln. Gruppenweise wurden ab 1928 Einzelsiedlungen geschaffen. So kamen zwischen 100 und 150 zur eigenen Scholle, bis die Artamanengüter ins Reich übergingen. Die von ihnen propagierte Blut und Boden-These hatte wohl die weitestreichenden Folgen für das Ende der Weimarer Republik und den Weg ins Dritte Reich.

Die naturphilosophisch orientierten Landkommunen wurden eingeläutet durch Karl Wilhelm Diefenbach (1851-1913) in Höllriegels-kreuth bei München. Man lebte dort ab 1887 nach Eduard Baltzers (1814 -1887) Ideen. Privatbesitz und bürgerliche Ehe waren in dieser Kommune aufgehoben: Körperkultur (Licht, Luft, Sonne, Nacktheit, Beschwingtheit) und kosmisches Pathos verbanden sich zu einer Weihekunst, in der die Völkische Gemeinschaft ebenso Platz hatte wie der Wunsch nach sexueller Erlösung. 11] Hier ging auch der Maler Fidus ein und aus. (Anm.: Kein Wunder, war ja auch sein Schüler und wohnte dort)

 

Als Mustersiedlung war die lebensreformerischen vegetarischen Obstbaukolonie Eden? ein wahres Produkt der Gründerzeit. Hinter ihr standen Männer wie Friedrich Naumann, Eduard Baltzer, Carl Rußwurm, Erich Matthes, Friedrich Landmann u. a. Im Jahre 1893 aus der Idee entstanden, Zulieferbetrieb für die Berliner Vegetarierküchen zu werden, entwickelte sich Eden auf 500 Morgen zur Gartenstadt.

Diese Oase des Dritten Weges zwischen Kapitalismus und Sozialismus wird noch vierzig Jahre später als Ökonomische Siedlung, als das beste Beispiel für eine Genossenschaftssiedlung gerühmt. Man nannte sie Sanatoriensiedlung und Spezialsiedlung, kulturelle Siedlung, biologisch bestimmte Siedlungsform und eine Lebenspflegestätte; als weltanschaulich (idealistisch) bestimmte Siedlungsform gilt sie als naturreligiöse Siedlung und steht für Lebensglaube; sie ist auch eine Grenz- und Übergangsform und bildet einen Kulturmittelpunkt. 12]

Für Conti ist Eden die wichtigste, produktivste und dauerhafteste Siedlung der Lebensreformbewegung; demgegenüber steht der Monte Veritä als wichtigster Treffpunkt aller Gemeinschaftsgründungen des frühen 20. Jahrhunderts, weil er wohl außerhalb Deutschlands lag, denn germanische Art konnte im welschen Tessin nicht gedeihen. 13] Die 1901 bei Ascona eröffnete Naturheilanstalt Monte Veritä war -laut Prospekt – von Wahrheitssuchenden gegründet und den Wahrheitssuchenden gewidmet. Das Bermuda-Dreieck des Geistes beherbergte vielerlei Erholungsbedürftige und Naturapostel, Vollvegetarier und Idealanarchisten und war zeitweise Vorort von Berlin, weshalb an dieser Stelle diese Stätte gegenseitiger Erbauung und Stärkung zu erwähnen ist.

Nach dem Modell Eden baute auch Leberecht Migge? (1881-1935) sein Pilotprojekt auf, den Kulturgürtel Kiel, in dem der Müll der Stadt nach geeigneter Umwandlung in wertvollen Kulturdünger verwertet wurde, der zur intensiven Bewirtschaftung notwendig ist. Migge hat 1918 eine Lösung der Siedlungsfrage für den neuen Gartenbau, so der Untertitel seiner Schrift Jedermanns Selbstversorger, durch Eigenversuch in Worpswede auf seinem Sonnenhof erprobt und war zu dem Ergebnis gekommen, daß es mittels intensiven Gartenbaus möglich sei, auf 100 qm Land die pflanzliche Selbstversorgung zu garantieren.

Eden galt für den Wandervogel als Tatgemeinschaft. Auch die sogenannten Frauenkommunen, Schwarz Erden? seit 1923, Loheland seit 1919, widmeten sich der Tat. Allen jugendbewegten Siedlungsversuchen voran schafften sie alleine es, den vor dem Kriege erstrebten Kontakt mit der bäuerlichen Bevölkerung – den Nachbarn -herzustellen. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit lag im Erzieherischen: Sie bauten Gymnastikschulen für Frauen auf.

 
Aus den literarischen Zirkeln der Spätromantiker entsprungen war die Kommune der Neuen Gemeinschaft um die Brüder Heinrich (1855-1906) und Julius Hart (1859-1930)?, die sich um 1900 in Schlachtensee zusammenfand. Beide verfochten mit Bruno Wille (1860-1928) und Wilhelm Bölsche (1861-1939) die Gartenstadtidee in Deutschland, die als Edel-Sozialismus innerhalb der bürgerlichen Welt angesehen wurde, und verkündigten ein Drittes Reich (sic). Bei ihnen ging auch Gustav Landauer (1870-1919) ein und aus. 1918 richtete Heinrich Vogeler (1872-1942) auf seinem Privatbesitz im Künstlerdorf Worpswede die Siedler- und Arbeitsschule Barkenhoff als Aufbauzelle der klassenlosen menschlichen Gesellschaft ein. Die Arbeitsgemeinschaft Barkenhoff entsprang Vogelers Ziel, seine während des Krieges gefaßte gesellschaftspolitische Grundposition in die Tat umzusetzen. Eine gemeinwirtschaftlich arbeitende Produktionskommune sollte beispielhaft die Idee ausstrahlen, daß die anzustrebende Sozialform die brüderliche Gemeinschaft gleichberechtigt lebender und produzierender Menschen unter Vermeidung jeglicher Unterordnungsverhältnisse und Gewalt sei. Nur durch die notwendende Tat könne das Proletariat durch Selbstorganisation der Nahrungsquellen und in Selbstverwaltung neue Lebensqualität gewinnen und die Gesellschaft wieder ins Gleichgewicht bringen. Doch nach vier anregenden und aufregenden Jahren verließ Vogeler die Stätte seines utopischen Siedlungsversuchs mit der marxistischen Erkenntnis der Unmöglichkeit derartiger Experimente innerhalb der kapitalistischen Ordnung14].
 

Den Barkenhoffschen Tat-Gedanken griffen 1921 einige junge Arbeiter um Waldemar Kutschke auf. Sie besetzten bei Düsseldorf ein Stück Brache, um es zu kultivieren und dort eine anarcho-syndikalistische Siedlung aufzubauen, die sie im Sinne Landauers Freie Erde nannten. Unter Berufung auf die Volksland-Siedlungsgemeinde und die staatlicherseits angestrebte Kultivierung von Brachland wurde ihnen das Land letztendlich zugesprochen. Hier wurde eine sozialistische Synthese von Stadt und Land praktiziert, lange bevor der auf Notlinderung zielende Selbstversorgergedanke der Nebenerwerbssiedlung in die Gesetze eingeflossen ist.

Auch Hugo Hertwig (1891-1959) holte sich aus Worpswede Rat, um 1920 die kommunistische Siedlung Lindenhof bei Kleve mit Gesinnungsgenossen aufzubauen. Doch als Inhaber von Grund und Boden war sein Führungsanspruch zu ausgeprägt, so daß es bald unlösbare Spannungen gab und das Projekt schon nach einem Jahr – nicht nur an chronischem Geldmangel – scheiterte: Bürgerliches Idealdenken vertrug sich trotz guten Willens nicht mit siedlerischer Arbeit.

Vor allem in der freideutschen Stimmung der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde das wilde Siedeln praktiziert und lebten die vor dem Kriege schon diskutierten Ideale wieder neu auf, die mit Wörtern wie: Geheimbund, Elite, Auserwähltsein, geborener Dilettant, praktische Ethik, Mythos der Jünglingszeit umrissen werden können. Doch die kurzfristigen Robinsonaden, zu denen u. a. Küppers Sonnenhof zählt, hatten kaum Bestand. Von ihnen gab es laut Linses Schätzung etwa einhundert, die oft durch die Kriegsversehrtenrente mitfinanziert wurden. Immerhin wirkten sie familienbildend und transportierten sicherlich Stimmungen weiter. Nicht wenige der Initiatoren nahmen in der Weimarer Republik höhere öffentliche Stellungen ein, u. a. im Städtebau und Siedlungswesen.

Aus dem Geist der linksbürgerlichen Jugendbewegungen des Koch-Kurella-Kreises um Wynecken und Blüher entstand 1919 die Jugend-Kommune Blankenburg bei Donauwörth. Der Hauptinitiator Hans Koch (1897-1995) verwirklichte in ihr seinen bereits 1916 gefaßten Plan vom Zusammenleben in Selbstbestimmung und urchristlichen Kommunismus weit ab von der kapitalistischen Großstadt. Doch das Landleben der insgesamt zwanzig jugendlichen Siedler führte zu einer zunehmend spartanischeren Lebensweise, die dennoch nur mittels Spenden aufrecht erhalten werden konnte. Als Spartakistennest wurde Blankenburg streng überwacht und am 19.6.1919 von Reichswehrsoldaten ausgehoben. Die elf Anwesenden wurden verhaftet, was zur Auflösung der Kommune und 1921 zu ihrer Reprivatisierung führte. Aus solchen Erfahrungen heraus plädierte Koch für die Jugendsiedlung, die man jedoch nicht aus der Dreieinigkeit von Sentimentalität, Intellektualismus und Reflexion erbauen könne. Entsprechend lautet Kochs Rat: Los von der Phrase. Unbedingte Ehrlichkeit. Los von jeglicher Art Sentimentalität. Keine Vermanschung privater Wünsche mit – deren Rahmen übersteigenden – Menschheitsgesten.15]

Bewußt wurde bisher das Schlagwort jugendbewegte Kommune nicht benutzt, weil eine Überfrachtung dieses Begriffs durch die Dokumentationen aus den eigenen Reihen vorherrscht. Würde man sich diese zu eigen machen, dann wäre das ganze Geschehen der Weimarer Republik jugendbewegt und freideutsch zu nennen, denn Jugendbewegte fanden sich in allen politischen Gruppierungen. Der Modellcharakter der einzelnen Siedlungen ist jedoch meist nur durch ihr Echo in der Öffentlichkeit festzustellen, das durch unzählige Publikationen und aktuelle Berichte hervorgerufen wurde.

Über die Gründe für ihr häufiges Scheitern ist man sich einig. Während Küppers 1933 den Mißstand der offiziellen Siedlungspolitik im wesentlichen im Umstand des Aneinandervorbeiredens in der Siedlungsbewegung, des Aneinandervorbeiregierens bei den Behörden und des Aneinandervorbeihandelns bei den Siedlungsträgern sieht, krankte die Gemeinschaftssiedlung oft auch an Mißwirtschaft und der zu schwachen finanziellen Basis. Neben Unverträglichkeiten unter den Gruppenmitgliedern war es zudem die Unfähigkeit, sich in die gesellschaftliche Umgebung einzugliedern – eben aufgrund eines zu ausgeprägten Sendungsbewußtseins. Man entwickelte einen Gruppenindividualismus, der nicht in die Gesellschaft integrierbar war, heizte aber die politische Mißstimmung mit an, was – wie sich im Nachhinein sagen läßt – nicht zum Vorteil der Weimarer Republik war. Allen Initiatoren war der Bezug zur Blauen Blume gemein, die in der einen Hand gehalten wurde; die andere jedoch trug entweder eine rote, eine braune oder eine grün-weiße Fahne.

 

• Eine frühe, zeitgenössische soziologische Untersuchung der jugendbewegten Siedlungen von Georg Becker stellt heraus, daß es die weltanschaulich – eschatologisch, dualistisch und individualistisch -begründeten Abgrenzungen zur Außenwelt waren, die den Anschluß an die Gesellschaft verhinderten: Die einseitige Einstellung, die radikale Ablehnung einzelner machtvoller Vergesellschaftungsgebilde, die Flucht aus der realen Welt und nicht zuletzt die schwache wirtschaftliche Basis lassen einen pädagogischen Erfolg im Sinne der besprochenen Einzelversuche (Habertshof, Bruderhof, Neusonnenfeld, Vogelhof, Barkenhoff und Freie Erde) nicht zu. 16 Der Politologe Küppers – selbst kriegsversehrter Siedler – spricht in seiner 1933 erschienenen Untersuchung Deutsche Siedlung, Idee und Wirklichkeit vor allem das ökonomische Scheitern an. Bei der Beurteilung idealistischer, romantischer oder kultureller Siedlungsunternehmen dürfe allerdings nie allein der ökonomische Maßstab angelegt werden. Kulturelle Siedlungsversuche müssen auch kulturell bewertet werden17. Die solchem Reformgeist entsprungenen Siedlungen und Kommunen stellt er in seinem Kapitel über Kulturelle Siedlungen vor, die er wiederum einteilt in biologisch bestimmte, weltanschaulich bestimmte, politisch bestimmte, sozial bestimmte, ästhetisch bestimmte, theoretisch-pädagogisch bestimmte und in Grenz- und Übergangsform. Wie schwer sich Küppers sich bei seiner Einteilung tut, zeigt sich an der Mehrfacherwähnung mancher Einrichtungen wie z. B. die der Lebensreformerischen Obstbausiedlung Eden. Hinzuweisen ist zudem auf die Erfahrungen der Genossenschaftlichen Siedlungen innerhalb der Jugendbewegung der Nachkriegszeit, die die Dissertation von Elisabeth Fleiner, vorgelegt am Institut für Sozial- und Staatswissenschaften der Universität Heidelberg, 1932 behandelt hat.

Das Thema des Wirtschaftsstils der Wirtschaftsunternehmen der deutschen Jugendbewegung wurde dreißig Jahre später von Manfred Fuchs umfassender an 15 Unternehmen der Jugendbewegung untersucht: Hauptsächliche Gründe ihres Scheiterns seien, neben dem Fehlen des gemeinsamen Glaubens und neben Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Gemeinschaft, die fehlende wirtschaftliche Zielsetzung und das Unterschätzen wirtschaftlicher Notwendigkeiten gewesen.

Ein weiterer Untersuchungsschub erfolgte nach 1970. Zum einen wurden aus den Reihen der ehemaligen Jugendbewegten Dokumentationen herausgebracht, die jeweils auch knapp Kommunen und Siedlungen behandeln. Zum anderen wurden Siedlungs- und Kommunegedanken der Großvätergeneration neu betrachtet und im Blick auf innovative Zukunftsmodelle bewertet. Ulrich Linses Untersuchung zu den Kommunen der deutschen Jugendbewegung und, weiter ausgreifend sowie mit Quellensammlung, zu den Landkommunen in Deutschland 1890-1933 waren die ersten umfassenden historischen Analysen. Allerdings beschränkte sich Linse auf die weltanschaulich motivierte (bei Küppers kulturelle oder romantische) Siedlungsform der ländlichen Gemeinschaftssiedlung. Linse versucht in seiner Dokumentation der Landkommunen in Deutschland 1890-1933, dem Wesen dieser unterschiedlich gewichteten Lebens- und Arbeitsgemeinschaften auch gerecht zu werden, indem er die Urteile der bisherigen wissenschaftlichen Aufarbeitung hinterfragt.

Gustav Heineckes Schrift Frühe Kommunen in Deutschland. Versuche neuen Zusammenlebens. Jugendbewegung & Novemberrevolution von 1978 will keine exakte historisch-soziologische Analyse der Landkommunen liefern, sondern sie im Hinblick auf die Verwertbarkeit historischer Erfahrungen für die heutige Zeit verstanden wissen. Interessant sind für ihn daher nur neun der im Sinne Landauers entstandenen Kommuneversuche: Barkenhoff, Blankenburg, Lindenhof, Freie Erde, Naturwarte Mönne, Frauenkommune Schwarzerden, Bergfried-Siedlung Söllhuben, Gut Höllsteig sowie die Freie Arbeitsgemeinschaft Haus Schwedenschanze. Heineckes Sieb läßt höchstens dreißig kommunistische Kommunen von ca. hundert Gebilden durch; der Großteil war für ihn entweder völkisch-imperialistisch oder rein religiös motiviert.

In dem 1984 erschienenen Beitrag zur Ideengeschichte gemeinschaftlichen Wohnens über die Kommune- und Siedlungsbewegung der 20er Jahre liefern Hans-Ulrich Helmer u. a. eine kurze Beschreibung von 99 Projekten. Corona Hepp stellt die Landkommunen in ihrem Buch Avantgarde in den Kontext des sogenannten Dritten Weges: Während die Arbeiterbewegung ihre Konsumgenossenschaften entwickelt hätten, habe die Bürgerboheme ihre eigenen Siedlungsgenossenschaften entworfen und zwischen Kapitalismus und Kommunismus die Sozialaristokratie verkündet, wobei sie speziell die Neue Gesellschaft, Eden und den Monte Veritä zitiert. 18]

Die Wurzeln der ländlichen Gemeinschaftssiedlung liegen laut Christoph Conti im konsequent geführten Gedanken der Lebensreform. Beispiel ist für ihn die Landkommune des Malers Karl Wilhelm Diefenbach in Höllriegelskreuth bei München, in der man – wie erwähnt – ab 1887 nach Eduard Baltzers Ideen lebte. Ihm gilt Eden als wichtigste, produktivste und dauerhafteste Siedlung der Lebensreformbewegung. Im eigentlichen Sinne als Alternative sieht Conti die Siedler der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, geprägt von jugendbewegtem Geist. Gemeinsam sei ihnen ihr religiöser Zug, auch wenn sie kommunistisch oder völkisch, anthroposophisch oder anarchistisch begründet waren. Ihm scheint, als habe jede Landsiedlung eine besondere Form des Gottesreiches herbeiführen wollen19]. Etwa hundert jugendbewegte Landsiedlungen seien nach 1918 entstanden, Tausende von Jugendlichen seien als Siedler oder Gäste, Alternativtouristen oder als bloße Plänemacher an diesen Projekten beteiligt gewesen. Als linke Siedlungen stellt er besonders heraus: Blankenburg, Barkenhoff, Kommunistensiedlung Lindenhof; als rechte Siedlungen nennt er: Donnershag oder Deutsch-Ordens-Land, Vogelhof; christliche Siedlungen sind: Sannerz und Habertshof der Neuwerk-Bewegung. Für Frauenkommunen führt er exemplarisch das Beispiel Schwarz Erden? an.

Archivmaterial – Schrifttum und vereinzelt auch Nachlässe (A. Luntowski/Reinwald; G. A. Küppers u. a. ) – zum Thema ist im Archiv der deutschen Jugendbewegung, Burg Ludwigstein, einzusehen. Es empfiehlt sich bei Einzeluntersuchungen, auch die jeweiligen Staatsarchive zu befragen; z. B. liegt in Bremen die Barkhoff-Akte.

 

Literaturhinweise

Bausinger, Hermann; Braun, Markus; Schwedt, Herbert: Neue Siedlungen. Volkskundlich-soziologische Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Insituts Tübingen. Stuttgart 1959.

Becker, Georg: Die Siedlung der deutschen Jugendbewegung. Köln 1922.

Bergmann, Klaus: Agrarromantik und Großstadtfeindschaft. Meisenheim am Glan 1970.

Conti, Christoph: Abschied vom Bürgertum. Alternative Bewegungen in Deutschland von 1890 bis heute. Reinbek 1984.

Die deutsche Jugendbewegung 1920-1933. Die Bündische Zeit (= Dokumentation der Jugendbewegung III). Düsseldorf; Köln 1974.

Die Deutsche ländliche Siedlung. Formen. Aufgaben. Ziele. Herausgegeben vom

Preussischen Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten. Berlin 2 1931.

Fleiner, Elisabeth: Genossenschaftliche Siedlungsversuche der Nachkriegszeit. Heidelberg 1932.

Fuchs, Carl Johannes (Hg. ): Die Wohnungs- und Siedlungsfrage nach dem Kriege. Ein Programm des Kleinwohnungs- und Siedlungswesens. Stuttgart 1918.

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Hasse, Ernst: Die Besiedlung des deutschen Volksbodens. München 1905.

Heinecke, Gustav: Frühe Kommunen in Deutschland. Versuche neuen Zuammen-lebens. Jugendbewegung & Novemberrevolution 1919-1924. Herford 1978.

Helmer, Hans-Ulrich u. a.: Die Meuterei der Bürgerkinder oder wie kommt das Schiff ins Traumland. Die Kommune- und Siedlungsbewegung der 20er Jahre. Hannover 1983.

Hepp, Corona: Avantgarde. Moderne Kunst, Kulturkritik und Reformbewegungen nach der Jahrhundertwende. München 1987.

Kampffmeyer, Hans: Friedenstadt. Ein Vorschlag für ein Deutsches Kriegerdenkmal. Jena 1918.

Koch, Hans: Jugend, Beruf und Siedlung. In: Der Neue Anfang. Jg. 2, 7-8/1920.

Krabbe, Wolfgang R.: Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Göttingen 1974.

Küppers, Gustav Adolf: Deutsche Siedlung. Idee und Wirklichkeit, o. O. 1933.

Landauer, Gustav: Die Siedlung. In: Der Sozialist. Jg. l, 11/1909.

Ders.: Vom Sozialismus und der Siedlung. In: Der Aufbruch. Jg. l, 4/1915.

Linse, Ulrich: Die Kommune der deutschen Jugendbewegung. München 1973.

Ders.: Ökopax und Anarchie. Eine Geschichte der ökologischen Bewegungen in Deutschland. München 1986.

Ders.: Rückzug aufs Land – Isolierung vom Land. In: Brockmann, A. D. (Hg. ): Landleben. Hamburg 1977.

Ders.: Siedlungen und Kommunen der deutschen Jugendbewegung. In: JB des Archivs der Deutschen Jugendbewegung. Jg. 14, 1982/83.

Ders.: Zurück o Mensch zur Mutter Erde. Landkommunen in Deutschland 1890-1933. München 1983.

Morris, William: Kunde von Nirgendwo. Köln 1974 (erste Auflage 1890). Vogeler, Heinrich: Siedlungswesen und Arbeitsschule. Hannover 1919. Weber, Hans Siegfried: Die Ansiedlung von Kriegsinvaliden. Stuttgart; Berlin 1916. Wurm, Shalom: Das Leben in den historischen Kommunen. Köln 1977.

 

Footnotes:

1 Krabbe, S. 36.

2 Die Deutsche ländliche Siedlung, S. 4.

3 Ebd., S. 3; S. 206.

4 Küppers, S. 108ff., bes. S. 110.

5 Ebd.

6 Land für Kleinbauern. Hessische Nachrichten. Jg. 2, 1/1945(26. 9. 1995), S. 1.

7 Küppers, S. 86.

8 Krabbe, S. 36.

9 Becker, S. 45.

10 Linse, S. 331.

11 Ebd., S. 214.

12 Küppers, S 94ff.

13 Conti, S. 86.

14 Heinrich Vogeler. In: Becker, S. 52-59.

15 Hans Koch, S. 94-98

16 Becker, S. 81

17 Küppers: S. 109 (Anm 123.)

18 Hepp, S. 75-82

19 Conti, S. 66-149

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