Zitate

Zitate aus Francis Bacons „Neues Organon“

Kurze Sätze über die Erklärung der Natur und die Herrschaft des Menschen.

Erstes Buch.
1.

Der Mensch, als Diener und Erklärer der Natur, wirkt und weiss nur so viel, als er von der Ordnung der Natur durch die Sache oder seinen Geist beobachtet hat; mehr weiss und vermag er nicht.

2.

Weder die blosse Hand noch der sich selbst überlassene Geist vermag Erhebliches; durch Werkzeuge und Hülfsmittel wird das Geschäft vollbracht; man bedarf dieser also für den Verstand wie für die Hand. Und so wie die Werkzeuge die Bewegung der Hände erwecken und leiten, so müssen auch die Werkzeuge des Geistes den Verstand stützen und behüten.

3.

Wissen und Können fällt bei dem Menschen in Eins, weil die Unkenntniss der Ursache die Wirkung verfehlen lässt. Die Natur wird nur durch Gehorsam besiegt; was[83] bei der Betrachtung als Ursache gilt, das gilt bei der Ausführung als Regel.

4.

Für seine Werke vermag der Mensch nichts weiter, als dass er die Naturkörper einander nähert oder sie von einander entfernt; das Uebrige vollzieht die Natur innerlich.

5.

In die Natur pflegen sich bei ihren Werken der Mechaniker, der Mathematiker, der Arzt, der Alchymist und der Zauberer einzumischen, aber Alle, wie die Sachen jetzt stehen, mit schwachen Mitteln und geringem Erfolge.

6.

Es wäre unsinnig und ein Widerspruch, wenn man meinte, dass das, was bis jetzt nie bewirkt worden, nur auf eine bis jetzt noch niemals versuchte Art bewirkt werden könne.

7.

Die Erzeugnisse des Geistes und der Hände scheinen nach den Büchern und vorhandenen Arbeiten sehr zahlreich; aber all diese Mannichfaltigkeit entspringt nur aus übergrossen Spitzfindigkeiten und aus Ableitungen von wenigen erkannten Dingen, und nicht aus einer grossen Zahl von Grundsätzen.

8.

Auch die Dinge, die man bis jetzt erfanden hat, verdankt man mehr dem Zufall und der Erfahrung als den Wissenschaften. Denn die jetzt vorhandenen Wissenschaften sind nur eine Zusammenstellung der schon früher entdeckten Dinge, aber keine Weisen, Neues zu erfinden, und keine Anweisungen zu neuen Werken.

9.

Die alleinige Ursache und Wurzel beinah aller Uebel in den Wissenschaften ist, dass man die Kräfte des menschlichen Geistes fälschlich bewundert und erhebt und seine wahren Hülfsmittel nicht aufsucht.

10.

Die Feinheit der Natur übersteigt vielfach die Feinheit der Sinne und des Verstandes. Jene schönen Erwägungen, Spekulationen und Begründungen der Menschen sind nichts als unsgesundes Zeug; aber Niemand ist da, der es bemerkt.

11.

So wie die jetzigen Wissenschaften für die Erfindung von Werken nutzlos sind, so die jetzige Logik für die Entdeckung von Wissenschaften.

12.

Die Logik, mit der man jetzt Missbrauch treibt, dient mehr dazu, die in den gewöhnlichen Begriffen steckenden Irrthümer zu befestigen, als die Wahrheit zu erforschen; sie ist deshalb mehr schädlich als nützlich.

13.

Der Syllogismus wird für die Prinzipien der Wissenschaften nicht benutzt und für die Lehrsätze vergeblich benutzt, da er der Feinheit der Natur lange nicht gleichkommt; er legt der Zustimmung, aber nicht der Sache Fesseln an.

14.

Der Syllogismus besteht aus Sätzen; die Sätze bestehen aus Worten; die Worte sind die Zeichen der Begriffe. Sind daher die Begriffe, welche die Grundlage der Sache bilden, verworren und voreilig von den Dingen abgenommen, so kann das darauf Errichtete keine Festigkeit haben. Alle Hoffnung ruht deshalb auf der wahren Induktion.

15.

An den Begriffen, sowohl den logischen wie den physikalischen, ist nichts Gesundes; die Substanz, die Qualität, das Handeln, das Leiden, ja selbst das Sein sind keine guten Begriffe; noch viel weniger das Schwere, das Leichte, das Dichte, das Dünne, das Flüssige, das Trockene, die Erzeugung, die Verderbniss,[86] das Anziehn, das Fliehen, die Elemente, der Stoff, die Form und dergleichen; sie sind alle phantastischer Natur und schlecht begrenzt.

16.

Die Begriffe der untersten Arten, wie des Menschen, des Hundes, der Taube, und die unmittelbaren Wahrnehmungen der Sinne, wie des Warmen, des Kalten, des Wissen, des Schwarzen, täuschen nicht sehr, aber sie werden durch den Fluss des Stoffes und die Vermischung der Dinge mitunter verworren; alle anderen, deren sich die Menschen bis jetzt bedient haben, sind Verirrungen und sind nicht in der richtigen Weise von den Gegenständen abgenommen und aufgerichtet.

17.

Die Willkür und der Irrthum ist bei der Aufstellung der Sätze so gross wie bei der Bildung der Begriffe und bei den Prinzipien selbst, welche von der gewöhnlichen Induktion entnommen sind; aber noch weit grösser bei den niederen Sätzen und Aassprüchen, welche durch Syllogismen gewonnen worden sind.

18.

Das bis jetzt in den Wissenschaften Entdeckte ist derart, dass es schon in den gemeinen Begriffen enthalten ist; um aber in das Innere und Tiefere der Natur einzudringen, müssen die Begriffe und die Sätze auf einem[87] gewisseren und zuverlässigeren Wege entlehnt werden und eine durchaus bessere und sicherere Mithülfe des Geistes in Uebung kommen.

19.

Zwei Wege zur Erforschung und Entdeckung der Wahrheit sind möglich. Auf dem einen fliegt man von den Sinnen und dem Einzelnen gleich zu den allgemeinsten Sätzen hinauf und bildet und ermittelt aus diesen obersten Sätzen, als der unerschütterlichen Wahrheit, die mittleren Sätze. Dieser Weg ist jetzt in Gebrauch. Der zweite zieht aus dem Sinnlichen und Einzelnen Sätze, steigt stetig und allmählich in die Höhe und gelangt erst zuletzt zu dem Allgemeinsten. Dies ist der wahre, aber unbetretene Weg.

20.

Jenen ersten Weg betritt der sich selbst überlassene Geist und thut es nach den Regeln der Dialektik. Denn der Geist drängt nach dem Allgemeinsten hinauf, um da auszuruhen, und der Erfahrung wird er in kurzer Zeit überdrüssig. Dieses Uebel hat zuletzt die Dialektik vergrössert, um die Disputationen auszuschmücken.

 

 

I LOVE MYSELF

von

Mahret Kupka

 

Bevor ich begann Sylvia Plaths Glasglocke zu lesen, hatte das Buch eine Weile in meinem Regal gestanden. Sylvia Plath war für mich immer so eine Art Hermann Hesse gewesen. Eine Autorin, die Bücher schrieb, die einen im Innersten trafen, Bücher auch, die ihre Zeit haben. So wie Hesses Demian mich so um die 15 schwer mitgenommen hatte, so erwartete ich, dass mich Plaths Glasglocke irgendwann später treffen wür- de. Allein der Text auf dem Buchrücken hatte mich immer etwas abgeschreckt. Auf der Suhrkamp-Ausgabe von 1998 steht geschrieben: „Ein Buch über amerikanische Bewusstseinszustände“. So als handele es sich um ein Buch über Gegebenheiten, die mit meiner europäischen Sozialisierung nichts zu tun hätten. Als ich die Glasglocke ausgelesen hatte, blieb ich zurück mit einem dumpfen Gefühl, ähnlich wie ich es erwartet hatte. Ich war nahezu 32 Jahre alt und befand mich in eben jenem von Suhrkamp beschrieben „amerikani- schen Bewusstseinszustand“. Nur dass ich 12 Jahre älter war als die Ich-Erzählerin Esther Greenwood, gut ein halbes Jahrhundert später lebte und nicht an der amerikanischen Ostküste, sondern in Berlin.

Sylvia Plath lässt in ihrem berühmtesten Roman ihre Erzählerin unter ihrer Glasglocke hervorkriechen. Bis dato hatte Esther unter dieser gelebt: Abgeschirrmt von der Außenwelt, unendlich allein, unfähig echte Beziehungen einzugehen, innerlich schier zerfetzt durch die Diskrepanz zwischen dem Potential das in ihr wütete und ihrem Unvermögen, daraus etwas zu machen. Sie möchte schreiben und das Buch beschreibt jenen Punkt, an dem sie feststellt, dass ihr Talent, die Stipendien, die Unterstützung zahlreicher wohlmei- nender Mentoren, die sie bis dato trotz – oder auch gerade wegen der – Glasglocke weit über allen ande- ren schweben ließ, nicht mehr genügen, dass es Zeit ist selbst etwas zu tun, um sich nicht von allen ande – ren überholen zu lassen und zurückzubleiben mit nichts als ungenutztem Potential. Es ist auch jener Punkt, an dem sie beginnt, sich selbst als Betrügerin zu entlarven, als eine, die sich jahrelang auf ihren Möglichkei- ten ausgeruht hatte. Nach einer für die Zeit üblichen aber gründlich misslungenen Elektroschockbehand- lung, die sie aus ihrer Depression lösen sollte und sie schließlich einen Selbstmordversuch unternehmen lässt, landet sie mithilfe einer wohlhabenden Gönnerin in einer privaten psychiatrischen Klinik, wo sie Schritt für Schritt in ihr Leben findet.

Es ist eine kleine Weile her, als ich begann zu begreifen, dass es sich bei Zuständen, wie denen im Buch be- schrieben, nicht um Einzelphänomene handelt, dass es vielmehr individuelle Ausprägungen eines im- mergleichen Prozesses sind. Und mit Begreifen meine ich nicht das intellektuelle Erfassen, sondern das Ver- innerlichen, das Spüren der in Worte gekleideten Botschaft. Es ist ein Spüren, dass irgendwo zwischen tiefer Traurigkeit und großer Erleichterung anzusiedeln ist. Kein „aha, so ist das also bei denen“, sondern ein „oh shit, ich sitze im gleichen Boot“.

In letzter Zeit ist einiges geschrieben worden über das Los der heute 30jährigen. Nina Pauer legte mit ih- rem „Wir haben keine Angst“ die „Gruppentherapie einer Generation“ vor und rechnete später in der ZEIT mit den „Schmerzensmännern“ ab. Eine hochemotionale Diskussion begann, die sich wohl auf einen gemeinsamen Nenner herunter brechen lässt: Es gibt keine verlässliche Ordnung (wenn es sie denn je ge- geben hat) und die vermeintlich stärker werdenden Frauen und vermeintlich schwächer werdenden Männer werfen es sich gegenseitig vor. Ich kann es nicht mehr hören.

Tränen der Erleichterung trieb mir ein Radiobeitrag Konstantin Sakkas’ auf SWR2 Wissen in die Augen, der die Diskussion weg von den ewigen Anschuldigungen schiebt. 30 Minuten lang erklärt der 30jährige Philo- soph warum „um die 30 zu sein, (…) heutzutage keine bloße generationelle Tatsache (ist), sondern eine existenzielle Herausforderung.“ Die 30-Jährigen von heute seien in einer Weise Repräsentanten der neuen Zeit, wie es vielleicht noch nie seit Ende des Ersten Weltkrieges eine Generation gewesen ist: „In ihrem Schicksal bündelt sich wie in einem Brennglas die Zukunft unserer Gesellschaft mit all ihren Chancen und Herausforderungen. Beruflich wie privat ist ihre Ausgangslage von der ihrer Eltern und Großeltern grund- verschieden. Sie sind, wenngleich in vermeintlich komfortablen Verhältnissen geboren und groß geworden, viel mehr auf sich selbst, die eigene Kraft und das eigene Selbstvertrauen geworfen als die Generationen vor ihnen.“

Erwachsen ist ein Zustand, den man erreicht, wenn man Etwas entwachsen ist und dabei ist dieses Wach- sen ein Prozess, der z.T. von allein passiert, der aber auch einer gehörigen Portion Eigeninitiative bedarf um halbwegs angenehm zu verlaufen. „Gesunde Disziplin“ nenne ich es gern. Im Laufe meines Erwachse- nenprozesses habe ich mir ein persönliches Lebensmodell entwickelt. In diesem verschmelzen Erkenntnisse aus den Lektüren Freuds, Lacans und Alice Millers meine Beschäftigung mit C.G. Jung, einem Haufen eso- terischer, bzw. schamanischer Literatur und Erfahrungen, das Lesen unzähliger Märchen, philosophisch-so- ziologische Analysen wie die von Adorno, Illouz, Bourdieu, Foucault, Ehrenberg und Han und letztlich mei- ne eigene Geschichte, die sich gestaltet es ein andauernder Prozess der Verdrängung, der Verleugnung und des Verstehens. Einer Geschichte auch, die als Abziehbild des Modernisierungsprozesses unserer Ge- sellschaft gedeutet werden kann – so wie es auch Sakkas in seinem Radiobeitrag andeutet. Das klingt ei- nerseits etwas größenwahnsinnig, andererseits macht es mich aber auch zu einem kleinen fast unbedeuten- den Teil von etwas viel Größerem. Es macht mich zugleich zu Allem und auch zu Nichts. Und ich bin weder eine Mischung aus beidem, noch das eine oder das andere, sondern einfach beides. Eine Erkenntnis, die man nicht intellektuell fassen, sondern nur hinnehmen und hoffentlich irgendwann gut leben kann.

Der Philosoph Boris Groys, den ich während meines Hochschulstudiums in Seminaren hören durfte, schrieb einmal: „(Der Mensch) ist von der Suggestion vergiftet, dass er an sich und unabhängig von irgendwelchen Anstrengungen bereits einzigartig sei, von allen anderen Menschen auf einer bestimmten außerkulturellen, authentischen Lebensebene unterschieden. Deshalb empfindet er auch ständig eine gewisse Frustration, die aus der unvermeidlichen Erkenntnis seiner tatsächlichen unüberwindbaren kulturellen Banalität her- rührt. In Wirklichkeit ist aber Banalität der Normalzustand der menschlichen Existenz, kulturelle Originalität dagegen das Produkt sehr spezieller Anstrengungen, deren Sinn und Zweck all denen nicht so ohne weiteres einleuchtet, die nicht professionell im kulturellen Bereich arbeiten.“ In Grunde beschreibt er ge- nau damit den Zustand, unter dem Esther Greenwood und viele mit ihr leiden. Die Spannung zwischen fak- tischer Banalität, der simplen Tatsache, dass der Mensch einfach nur einer unter unzähligen anderen ist, ge- nauso frisst, scheißt, vögelt, säuft und stirbt und dem Spüren, dass das doch nicht alles gewesen sein kann. Die Vergiftung rührt daher, dass wir in einem System leben, dass uns fortwährend suggeriert, dass wir alle ganz unverwechselbar sind einfach nur aufgrund der Tatsache, dass wir sind, jede Skepsis wird im Keim er- stickt durch permanent angebotene Konsumobjekte, deren Zweck es ist, die Täuschung der Individualität aufrechtzuerhalten. Wirklich individuell ist aber, so Groys, erst der, der sich seine kulturelle Originalität erar- beitet, der, so könnte man auch sagen, in der Lage ist den Zeitgeist zu erfassen und eine eigene, vor dem individuellen Hintergrund gewachsene, Position dazu zu beziehen.

Als Esther Greenwood mit ihrer Glasglocke im Gepäck – denn los wird man sie nie, so durfte sie lernen – sich aufmacht, die Klink zu verlassen um wieder zurück ans College zu gehen, sagt ihr ihre Therapeutin un- verblümt, dass eine Menge Leute ihr mit Vorsicht begegnen würden, wie eine Aussätzige mit einer Warnglocke. Die Geschichte von Esther spielt zu einer Zeit, in der man nicht über Schwierigkeiten spricht. „Wir machen da weiter, wo wie aufgehört haben, Esther“, sagte ihre Mutter zu ihr „mit süßlichem Märtyre- rinnenlächeln“. „Wir tun so, als wäre das alles ein böser Traum gewesen.“ Und Esther denkt: „Für den der eingezwängt und wie ein totes Baby in der Glasglocke hockt, ist die Welt selbst der böse Traum.“

Die Zeilen erinnern mich an etwas, was ich in Slavoy Zizeks Einführung in das Denken des Psychoanalytikers Jacques Lacan gelesen hatte. Darin erläutert er Lacans hier stark vereinfachte Meinung, dass der Traum das eigentlich Reale sei und das vermeintlich Reale die Illusion, bzw. ein aus Vorstellungen zusammengestückel- tes Bild. Dass das Aufschrecken des Alptraumgeplagten im Grunde nichts anderes sei als eine Flucht vor der Realität, in eine Welt die sich, so jedenfalls die Vorstellung, dank ausgeprägter Illusionierungsbega- bung kontrollieren lässt. „Für Lacan“, so Zizek, „besteht die äußerste ethische Aufgabe im wahren Erwa- chen: nicht nur aus dem Traum, sondern aus dem Bann der Phantasie, die uns sogar stärker kontrolliert, wenn wir wach sind.“ Meine Glasglocke ist für mich zum Inbegriff der Einsamkeit geworden war. Eine Kon- struktion, die ich mir irgendwann geschaffen hatte, um nicht mit den Unwegbarkeiten der Realität konfron- tiert zu sein. Statt zu versuchen mir die Realität und sei es auch durch ein Gerüst von Illusionen oder dem Aufgehen in Werbebotschaften oder dem kompletten Wahnsinn – ich hätte auch ein psychopatischer Serienmörder werden können – anzueignen, hatte ich mich in einen eigenen Schutzraum zurückgezogen, der mich vor Dingen bewahrte, denen ich zu dem Zeitpunkt nicht gewachsen war. Ich hatte mich selbst abge- koppelt vom Spiel des Lebens.

Die bereits zitierten Worte Groys’ stammen aus einem Essay, in dem er sich der Frage des Neuen widmet, dass er definiert als „Vollzug eines neuen Vergleich von etwas, das bis dahin noch nicht verglichen wurde (…).“ „Das kulturelle Gedächnis“ beschreibt er daher als „die Erinnerung an diese Vergleiche“ und das Neue fände nur dann Eingang ins kulturelle Gedächtnis, wenn es seinerseits ein neuer derartiger Vergleich ist.“ Das heißt im Grunde nichts anderes, als dass es das Neue nicht gibt, jedenfalls nicht in der Form, wie man sich das gemeinhin vorstellt, als etwas vollkommen anderes als das, was vorher da war, als eine Art Heilsbotschaft, ein Erlösungsversprechen aus unerträglichen Zuständen. Das Neue ist vielmehr nur eine Neuordnung des Immerwährenden. Das vorläufige Ergebnis eines kulturellen Aushandlungsprozesses. Und möglicherweise liegt genau in der Tatsache, in diesem Missverständnis des Neuen, die Erklärung dafür ver- borgen, warum eine Vermittlung zwischen der Selbsthilfegruppe der 30jährigen, wie Sakkas sie in seinem Radiobeitrag nennt, und der Elterngeneration so schwierig ist. Praktisch als Umkehrung der Groys’schen Theorie. Eben weil ältere Generationen annehmen (!), dass alles immer so ist wie es war und unsere Sorgen und Nöte die gleichen wie ihre sind, bieten sie uns ihre Lösungsmöglichkeiten an, die aber in unserer Reali- tät, die sich völlig neugeordnet darstellt nur unnötiger Ballast sind. Als dem Alten entwachsene taumeln wir längst nicht erwachsen durch eine Welt der wir mit unserem angelernten Werkzeug nicht habbar werden können. Es scheint als gäbe es da eine Diskrepanz zwischen etwas, das tatsächlich schon immer so war wie es ist und einer Bewegung, die dieser Tatsache zu entkommen trachtet. Jede Generation bezieht sich auf ihr jeweils Neues, ihr jeweils uneinlösbares Heilsversprechen und verliert damit zugleich den Sinn für das Ei- gentliche oder das „Immerwährende“, wie ich es weiter oben nannte. Doch worin besteht dieses „Immer- währende“, das immer nur neu geordnet wird?

In meiner stetigen Fokussierung auf ein „Immerwährendes“ sorge ich mich etwas altbacken daherzukom- men. Als jemand, der in vormoderne Zeiten strebt, als alles noch klar zu sein schien. Ein Gott als die eine Wahrheit hatte die Welt geschaffen und diesem war zu dienen. Punkt. Als jemand auch, der die Kontin- genz, als große Errungenschaft der Aufklärung, infrage stellt und als ein Vertuschungskonstrukt zu entlar- ven trachtet. Meine Versuche unerträglichen Zuständen zu entkommen, verglich ich gern mit dem Bild ei- nes Fahrers, dessen Wagen außer Kontrolle geraten ist. Ich raste ohne Bremse, das Lenkrad fest umklam- mert, eine kurvige Küstenstraße entlang, den drohenden Absturz dicht vor Augen. Ich brauche niemandem zu erklären, dass diese Situation nicht gerade dazu einlädt, entspannt die Füße aus dem Wagenfenster zu hängen und die schöne Aussicht zu genießen.

Das Bild des außer Kontrolle geratenen Wagens oder des Ins-Wasser-Geworfen-Werdens ohne Schwimmen zu können oder Des-am-Boden-Klebens trotz einer Gefahrensituation sind beliebte Traumsymbole, mithilfe derer unser Unterbewusstsein uns versucht etwas Essentielles mitzuteilen. Normalerweise tauchen diese Traumbilder in Lebensabschnitten auf, in denen wir beginnen die Kontrolle zu verlieren. Ich wage zu be- haupten, dass es aber weniger um die Angst geht, die Dinge nicht mehr beherrschen zu können, sondern dass es vielmehr eine Ahnung davon ist, dass wir überhaupt keine Kontrolle haben können, die dort hervor- blitzt. Dass vielleicht der einzige Weg irgendeine Form von Kontrolle zu haben darin besteht zu ak- zeptieren, dass wir keine Kontrolle haben. Und selbstverständlich ist es viel schwieriger entspannt lächelnd, weil wissend, dem Ende zuzurasen, als panisch schreiend am Lenkrad herumzudrehen. Die wirkliche Frei- heit besteht also womöglich darin innerhalb unveränderlicher Gegebenheiten klar und locker zu bleiben. Es ist kaum verwunderlich, dass in den letzten Monaten Begriffe wir Burn-Out und Depression einschlägige Medien beherrschten. Die Depression kann nämlich verstanden werden als Erschöpfung, als Unvermögen weiterhin den eigenen Illusionsraum aufrechterhalten zu können.

Heute glaube ich, dass ich beim „Immerwährenden“ angekommen war. Dem, was sich immer wieder in neuem Gewand darstellt. Während sich alle in den Formeln verstricken, verlieren sie das Ergebnis aus den Augen, was im Grunde eigentlich die Aufgabe darstellt. Und damit auch die Aufgabe, als das Aufgeben von den Vorstellungen, irgendetwas kontrollieren zu können. Vielleicht hat Sakkas Recht, wenn er sagt, dass „die 30-Jährigen von heute (…) Repräsentanten der neuen Zeit (sind), (…) dass sich „in ihrem Schick- sal (…) wie in einem Brennglas die Zukunft unserer Gesellschaft (bündelt) mit all ihren Chancen und Heraus- forderungen.“ In einem Vortrag einer Assistentin der berühmten Trendforscherin Lidewij Edelkoort hörte ich kürzlich, dass „the leitmotif for the years to come will be the dramatic and emotional way in which we will embrace the time we live in; with a new generation born in the troubled times of the turn of the centu – ry, that will be growing up without hope for their future, without a sense of well-being. (…) the only way out will be to embrace the dramatic circumstances of the ‚age of doubt’ by adopting and espousing the melancholic world view inherited from the romantics, creating an important second romantic period.“ Und wieder einmal wird sich das Alte in einem Neuen Kleid zeigen.

Ich habe keine Ahnung, wie mein weiteres Leben aussehen wird. Ob ich je Kinder haben werde, jemals in einer konventionellen Partnerschaft leben werde, jemals Geld verdienen werde, jemals eine anständige Al- tersvorsorge haben werde, jemals… was auch immer. Ich kann nur sagen, dass ich nie zuvor so ich, so glücklich, so in mir war wie heute auch wenn das noch oft genug sehr schmerzhaft ist und mich noch oft genug vergangene Schutzprogramme ausschalten. Dann stehe ich wieder auf und beginne von vorn. Was bei vielen als Ego-Trip verschrien ist, ist für mich der feste Glauben daran, dass manchmal ALLES zusam- mengetreten und aus dem Fenster geschmissen werden muss, damit es aufgeräumt und geordnet und als EIGENES zur Tür wieder hereinkommen kann. Es ist ein scheiß anstrengender Prozess mit unzähligen Rück- schlägen und Zusammenbrüchen, aber ich beginne ihn zu lieben, dieses unkontrollierbare echte Leben, ebenso wie mein absolut unkontrollierbares echtes Selbst.

Zitate aus:
• Slavoy Zizek – Lacan: Eine Einführung
• Sylvia Plath – Die Glasglocke
• Boris Groys – Über das Neue: Versuch einer Kulturökonomie. Essay
• Konstantin Sakkas – Generation Gesamtkunstwerk

Wie lebt ein freier Mensch?

Martin Seel schreibt in der Philosophie-Beilage der Zeit (Nr. 25, jetzt im Juni 2013, S. 9):

 

Ein freier Mensch ist jemand, der alles in allem so lebt, wie er es aus eigenem Antrieb und eigener Überlegung will. Alles in allem: Er wird vieles so nehmen und manches so hinnehmen müssen, wie es nun einmal ist. Aus eigenem Antrieb: Er wird vor allem denjenigen seiner Leidenschaften folgen, an denen ihm am meisten liegt – mitsamt den Bindungen, die ihnen entspringen. Aus eigener Überlegung: Er wird seine Antriebe durch sein Überlegen und sein Überlegen durch seine Antriebe so formen, dass es seine Entscheidungen sind …“

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